Was passiert, wenn Kunden eigeninitiativ das Ruder übernehmen und eine ganze Branche überrollen, erlebt gerade die Musikindustrie. Die Musikbranche ist immer noch nicht beweglich und schnell genug für die steigenden Bedürfnisse ihrer hochmotivierten und bestinformierten Fans. Die bisherigen Angebote reichen nicht (mehr) aus, um Fans zufriedenzustellen, die es gewohnt sind, in Echtzeit zu kommunizieren und zu konsumieren.
Bestes Beispiel: der Hype um die junge Band Tokio Hotel. Die Musikfans (Trittbrettfahrer inklusive) haben sich in Windeseile ihre eigene Welt geschaffen - mit Dutzenden von Foren, Fanpages und Weblogs, während die offizielle Bandseite monatelang in einer Preview(!)-Version (s. Screenshot) brach lag und erst vor wenigen Tagen aktiviert wurde.
Doch die Fans (Trittbrettfahrer inklusive) lassen nicht locker. CDs und Klingeltöne reichen längst nicht mehr. Mehr hat die Branche selber allerdings nicht zu bieten. Deshalb handeln die Fans zunehmend mit eigenen Produkten, die weit über das (online noch nicht verfügbare) offizielle Merchandising-Sortiment hinausgehen.
Neben den typischen Fanprodukten wie Poster, Fotos und handsignierten Bierflaschen gibt es auch jede Menge selbst gemachte Schweißbänder, Kissenbezüge, Federmäppchen. Außerdem zum Teil sehr eindrucksvolle Schmuckstücke: Ohrringe, Ohrringe mit Bandfoto, Edelstahl-Armreif mit Bandlogo. Neben "Gemälden" sind auch selbst gestaltete Wandkalender ("als Weihnachtsgeschenk") im Angebot.
Alles Ideen und Vorschläge, die die Branche aufgreifen und ebenso schnell über ihr Fanprogramm kanalisieren könnte, wenn, ja wenn die Musikindustrie sich schon als Händler bzw. als Dienstleister für die Fans begreifen würde. Doch nur widerwillig lässt sich die Branche darauf ein. Hinderlich sind vor allem die überkommenen Strukturen und strikten Aufgabenteilungen:
Um den Musikvertrieb kümmert sich meist das Label bzw. der Musikhandel, um das Merchandising im besten Falle das Management, oft zusammen mit einem externen Dienstleister, um Konzerttickets eine Veranstaltungsagentur. Und die Fanbetreuung wird an den Fanclub delegiert. Und weil überdies eine zentrale Anlaufstation fehlt, übernimmt produktseitig Ebay diese Rolle. So ist auch Tokio Hotel eine der vielen Ebay-Bands.
Festmachen lässt sich das Dilemma auch an der offiziellen Website, die stark auf den Musikwerbesendern promotet wird, und die deshalb die zentrale Anlaufstation für die Fans sein müsste. Diese kann es allerdings hinsichtlich Aktualität und Interaktivität mit kaum einem der Fanblog-Dienste aufnehmen. Die Seite will repräsentieren, informieren und verkaufen zugleich. Sie schottet sich aber in guter Tradition nach außen hin ab - und verweist nur auf offizielle und genehme Angebote, kurz: sie ist nicht fantauglich.
Was das Merchandising angeht, agiert die Musikbranche, als ob es schnelle Merchandisingdienste wie Spreadshirt & Co. nie gegeben hätte, als ob die Produktion von Merchandising-Produkten weiterhin Wochen und Monate dauern muss. Und so kommt es, dass es auch bei etablierten Bands getrennt voneinander Poster und Fotos beim Postershop, Musik und DVDs beim Musikhandel, Tickets beim Tickethändler, etc. zu finden sind.
Die Musikindustrie und im Falle von Tokio Hotel die Plattenfirma Universal sind ein Paradebeispiel dafür, wie eine Industrie dem Zusammenbruch eines Geschäftszweigs nachweint und in ihrer Trauerarbeit vergisst, sich zügig neue Geschäftsfelder zu erschließen.
Ein Lichtblick sind allerdings die vielen unabhängigen Bands, die sich teilweise aus Notwendigkeit, teilweise aus einem neuen Selbstverständnis heraus verstärkt als Fandienstleister sehen. Aus eigenen Projekten wissen wir, wie offen Fans für einen zentralen Zugang zu allen Informationen und Produkten sind, und wie sie den aktiven und koordinierten Produktverkauf eher als hilfreichen Service denn als Geschäftemacherei ansehen.
Die Zukunft der Musikindustrie liegt bei den Fans. Es gilt sich eben nur darauf einzustellen.
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