Die E-Commerce-Landschaft steht vor einem grundlegenden Wandel. Seit gut drei Monaten verdichten sich die Anzeichen dafür, dass sich im E-Commerce ein Erdrutsch anbahnt, der gewaltige Marktanteilsverschiebungen mit sich bringen wird. Unseren Beobachtungen zufolge ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis das erste "MyShoppingSpace" den E-Commerce-Markt durcheinander wirbeln wird.
Denn inzwischen lässt sich ganz gut beschreiben, was passieren wird. Und auch das Tempo lässt sich erahnen, mit dem sich die neuen Anbieter am Markt etablieren werden. Umair Hague liefert zu der Fülle an frühen Beispielen (s. Linksammlung am Ende des Beitrags), über die wir kontinuierlich berichten, den konzeptionellen Überbau. Er zeigt in "The Age of Plasticity" (Powerpoint) sehr anschaulich, welche strategischen Kompetenzen in den "Network Economies 2.0" maßgeblich sind.
Unter anderem stellt er dar, wie (und warum) von den iPod-Verkäufen weit stärker noch als iTunes die Peer-To-Peer-Netzwerke profitieren, und wie selbst das heutige Ebay mit der neuen Entwicklung kaum Schritt halten kann. [Ebay versucht allerdings gerade, das Ruder herumzureissen, und hat seine Strategie inzwischen angepasst]
Schon seit längerem ist zu beobachten, wie es an allen Ecken und Enden bröckelt. Der etablierte Handel verliert kontinuierlich Online-Marktanteile. Gleichzeitig brodelt es unter der Oberfläche. Einstige Randthemen (Live-Shopping, Mass Customization, Social Commerce) entwickeln eine ungeahnte Eigendynamik. Sie sind nicht nur die neuen Innovationstreiber im E-Commerce. Wie sich zeigt, birgt jede dieser Disziplinen ihr ganz eigenes Sprengstoff-Potenzial.
Lässt sich E-Commerce heute noch weitgehend zentralistisch betreiben und steuern, so wandelt sich diese eindimensionale Form des Handels gerade in Richtung Mehrkampf, der in mehreren, sehr unterschiedlichen Disziplinen ausgetragen wird. Der künftige Handelsraum erstreckt sich zudem über mehrere Dimensionen.
Umair Hague verdeutlicht dies in einem Schaubild (Powerpoint, S. 46)
Obwohl für die (Massen-)Medien entwickelt, die sich (außerhalb Deutschlands) schon heute dem Druck der Mikromedien ausgesetzt sehen, lässt sich die Darstellung 1:1 auf den Internethandel übertragen:
- Microchunks: Welche Händler bieten ihren Nutzern Shoppinglösungen, die auch dezentral nutzbar sind?
- Users: Welche Händler bauen auf eine starke Nutzer-Community, arbeiten mit dieser und profitieren von deren Unterstützung?
- Peers: Welche Händler arbeiten mit Empfehlungssystemen ("Social-Commerce Komponenten"), die eine virale Verbreitung über Mundpropaganda ermöglichen?
Darzustellen, in welchen Dimensionen sich der Online-Handel in Zukunft abspielt, ist das eine. Bemerkenswert ist allerdings das Tempo, in dem sich diese Entwicklung vollziehen wird.
Es lässt sich erahnen, wenn man verfolgt, welche Sogwirkung und welche Dynamik MySpace, Last.fm und andere Peer-To-Peer-Dienste entfalten. Oder wie sich die Weblog-Idee in rasender Geschwindigkeit verbreitet.
Wenn man sich die (mehrdimensionalen) Verkaufskonzepte der Yahoo! Shoposphere in den USA oder von Zlio Buzz Shopping in Frankreich vor Augen führt, dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis das erste, hochdynamische, beliebig skalierbare "MyShoppingSpace" über den weitgehend statischen E-Commerce-Markt hereinbricht.
Was vor allem für den etablierten Handel ein Horrorszenario sein dürfte, ist die große Chance für alle, die auf die neuen Fähigkeiten bauen können. Umair Hague spricht von Edge Competencies, die nun gefragt seien, denn die Revolution findet an den Rändern statt.
Das klingt vergleichsweise harmlos. Und die Erkenntnis ist ja auch nicht neu: Nischenmärkte und Spezialanbieter legen seit längerem zu. Neu ist allerdings die Bewertung: Experten sprachen lange Zeit von der "toten Mitte", gelangen jedoch langsam zur Überzeugung, dass dies so nicht stimmt. (s. "Die Mitte lebt!" (PDF) von Z_Punkt; "Die Mitte" als Schwerpunkt in brand eins)
Ganz im Gegenteil heißt es inzwischen: "Die Ränder werden zur neuen Mitte". Die Märkte stülpen sich einmal komplett um. Was vorher am Rand war, rückt nun ins Zentrum. Egde Competencies werden zu Kernkompetenzen. Oder etwas platter formuliert: Fan- und nutzergetriebenen Verkaufsmodellen gehört die Zukunft. Der Handel treibt nicht mehr die Massen; die Massen treiben den Handel.
Was die Musikindustrie gerade leidvoll erfahren muss - von Napster über iTunes bis zu MySpace, das steht dem Handel noch bevor. Bei MySpace spielt Größe keine Rolle mehr. Der Status (und damit der zukünftige Erfolg) definiert sich quasi ausschließlich über die aktivsten und umtriebigsten Fans. Der kleine Indie-Künstler hat dasselbe Potenzial wie der Mega-Star. Die Massen suchen und schaffen sich ihre Stars selber.
Auf den Handel übertragen, heißt dies: Nur wer eine (Fan-)Community um sich scharen kann und diesen Fans Tools an die Hand geben kann, mit denen diese verkaufen und neue Fans gewinnen können, wird vom Erdrutsch verschont bleiben. Wer es nicht schafft, sich frühzeitig in die Communities einzuklinken oder selber Communities zu schaffen, wird am Rande zurückbleiben.
Vertiefende Beiträge:
Leicht verständlich ist die Präsentation nicht gerade, aber einige Handelsbeispiele sind auch drin. Da wird eBay als "schlechtes Beispiel" mit linearisiertem Wachstum aufgeführt und amazon mit exponentiellem, ohne deren Struktur zu betrachten. Es hängt nicht nur von den eingesetzten Mitteln, sondern auch vom Angebot und den Käufern ab. Für modernes Technik"spielzeug" (vom Gadget bis zum Heimkino) ist der Einsatz moderner Techniken sicher hilfreich, weil es zur Zielgruppe passt. Für andere Bereiche ist das schon wieder anders, da zählt vielfach der Service. Wenn ich durch eine aktive Community (z.B. Foren, Wikis, Bewertungen) einen Vorteil für den Kunden biete, dann ist das gut, aber eine solche Einbindung ist erst ab einer gewissen Größe hilfreich. Meist sind doch rein praktische Gründe für eine Kaufentscheidung ausschlaggebend: Ich bekomme alles aus einer Hand (und spare Versandkosten), die Lieferzeit ist hier geringer oder der Anbieter will nicht meine ganze Lebensgeschichte für die Bestellung wissen. Sicher spielen Empfehlungen, Erfahrungen und Bekanntheit eine Rolle, die sich durch moderne Kommunikation ausbauen lassen, eine Entwicklung zu Kleinverkäufern sehe ich nicht, maximal im Bereich von Eigenproduktionen (Kleidung, Merchandising, Medien) durch Blogs, Nebenmedien und Gemeinschaften. Ein interessantes Beispiel ist 1&1 mit seinen Profisellern. Es wäre interessant, ob das System funktioniert, oder ob es fast nur "Professionelle" gibt und die anderen Verkäufe darüber Mitnahmeeffekte sind.
Kommentiert von: Martin H. | 21. Februar 06 um 18:22 Uhr