Alle paar Wochen erfindet jemand das Internet neu. Diese Woche war es Facebook. Künftig will Facebook Unternehmen "erlauben", für "seine" Internetnutzer Anwendungen zu entwickeln und in sein Internet Facebook zu integrieren. (Hervorragende Zusammenfassungen bzw. Analysen haben Read/Write Web, Spiegel Online, Neunetz. Auch Robert Basic und live.hackr sind euphorischer denn je.)
Facebook selber vereint zwar viele Nutzer, ist aber wie Second Life und andere keine frei zugängliche Internet-Anwendung. Da Exciting Commerce grundsätzlich nicht über geschlossene Nutzergruppen berichtet, wäre das hier eigentlich kein Thema.
Spannend daran ist, dass der Facebook-Trubel das Thema "Das Web als Plattform" wieder auf die Tagesordnung bringt und sich offenbar zunehmend mehr Begeisterte finden. Die Facebook-Ankündigung läuft sinnigerweise unter dem Label "Facebook as a platform".
Am ehesten kann man sich deshalb den Einschätzungen von "VC Mike" Hirschfeld anschließen: Facebook als Wegbereiter für neue (und alte) Plattformbetreiber:
"If I had to bet — and I guess that is what I do for a living, after all — I would lay down that over the next 3-5 years there will be a handful of important new “platform” companies - in the true sense of the word - that emerge from the primordial goo we now call Web 2.0. Microsoft, Yahoo, and even Google all will face new challengers."
Eine ganze Reihe von Unternehmen arbeitet am "Betriebssystem" für ein schnellvernetztes Internet (vulgo Web 2.0), an einer Infrastruktur, die eine enge Verzahnung unterschiedlicher Anwendungen und den schnellen Austausch der Daten untereinander ermöglicht.
Neben Google, Microsoft ("Windows Live") und Yahoo wollen auch Amazon ("Web 2.0 Profiteur") und Ebay ("Commerce Operating System") kräftig mitmischen.
Beachtung verdienen aber vor allem Newcomer wie Netvibes oder Pageflakes (s. Read/Write Web: Who can compete with Facebook?), die in den letzten Wochen mit beeindruckenden Neuerungen an den Start gegangen sind, die - ganz im Gegensatz zu Facebook - auch das frei zugängliche Internet revolutionieren können.
Denn die Facebook-Strategie hat einen entscheidenden Haken, den Ning-Chefin Gina Bianchini wie folgt auf den Punkt bringt (via):
“All freedom is good, but when people get a taste of type of freedom Facebook is launching today, they want more than a bite.
A tightly controlled service can be successful, but fundamentally people want freedom at every level,” she said.
Facebook is open to third parties to integrate on top of the service, but you do have to inhabit the Facebook’s walled garden."
Insofern bringt die Facebook-Ankündigung für alle, die an ein vernetztes Web glauben, wenig Neues. Sie muss einen eher skeptisch stimmen, weil hier wieder mal jemand versucht, sein eigenes Süppchen zu kochen. Und von den Yahoos, Web.de's etc. gibts nun wirklich schon genügend.
Böse formuliert könnte man sagen: Alle, die es nicht alleine schaffen, werden in Facebooks Garten springen (s. die Anmerkungen zu iLike). Business 2.0 Autor Owen Thomas sieht darin ein allgemeines Phänomen:
"Startups today seem more eager than ever to take the easy way out. Why go through the bother of hiring ad sales reps when you can just use AdSense? Why trouble yourself with buying servers when Amazon's S3 beckons? And now, why bother creating a site that consumers are actually willing to sign up for when you can just borrow Facebook's user base?"
E-Commerce-Unternehmen (wie Threadless, Woot & Co.), die selber Nutzermagneten sind, haben es nicht nötig, nun gesonderte Anwendungen für Facebook & Co. zu entwickeln. Zumal eine Reihe von Universaldiensten (wie Snipperoo, Springwidgets, Widgetbox, etc.) bereitstehen, die künftig eine Integration in Facebook und andere Plattformen dieser Art ermöglichen.
Um nicht missverstanden zu werden. Natürlich ist die Facebook-Ankündigung spektakulär: Facebook öffnet sich und bietet ein wunderbares Ökosystem für alle, die es nutzen wollen. Aber Facebook wird sicherlich nicht das letzte sein, denn nun sind alle, die geglaubt haben, es geht ausschließlich um (abzuschottende) Communities, im Zugzwang. Mal sehen, womit uns all die MySpaces, Xings und Lokalisten in den kommenden Monaten überraschen werden.
Sehr lesenswert ist auch dieser Abgesang auf MySpace von Redeye VC (via pick!t)
Frühere Beiträge zum Thema:
Du stellst die Möglichkeit, die riesige Facebook-Community als Marketingkanal anzuzapfen, als eine Art leichten Ausweg dar. Warum? Jeder, der im Netz eine Dienstleistung anbietet, braucht Nutzer/Kunden. Dafür kann man eine eigene Marke aufbauen, oder aber auf anderen Huckepack reiten. Letzteres machen Tausende Unternehmer bereits seit Jahren bei Ebay. Einem erfolgreichen Powerseller bei Ebay sagt man doch auch nicht, dass er eine arme Nummer ist, weil er es aus eigener Kraft nicht geschafft hat, oder? Nun geht das also auch bei Facebook.
Ich kann mir den genau entgegengesetzten Weg vorstellen: wie wäre es, wenn ein Unternehmen Facebook als Launch-Plattform zu nutzen versteht und dann daraus seine eigene Marke aufbaut, die später auch unabhängig von Facebook bestehen kann?
Und ganz egal wie man's macht - wer im Netz zum Erfolg kommt, weil er (oh böses Wort:) Geld verdient, der muss einiges richtig machen, da reicht eine Einbettung in einer Plattform wie Facebook allein nicht aus. Denn auf der wird es ja in Windeseile auch wieder viel Konkurrenz geben.
Kommentiert von: Martin Oetting | 28. Mai 07 um 11:26 Uhr
Mal abgesehen davon, dass es bewusst provokativ formuliert war, weil es sich viele mit der Huckepack-Nummer sehr leicht machen. Und dann irgendwann feststellen, dass sie alleine im Internet nicht überlebensfähig sind.
(Ich dachte dabei im übrigen vor allem an große, etablierte Marken und weniger an den Aufbau von Marken.)
Für kleine, zielgruppenaffine Anbieter bietet das Thema ungeheure Chancen, wenn sie eine Abhängigkeit vermeiden. (Nenn mir einen glücklichen Powerseller ;-)
Aber wir wissen alle, was als nächstes passiert. Es werden die Dickschiffe kommen und Facebook bevölkern. Irgendwann wird Facebook Gebühren verlangen oder anderweitig unattraktiv ... und die Karawane zieht weiter.
Ich wollte mit dem Beitrag nur verdeutlichen, dass es keinen Sinn macht, sich auf Ebay, Google, MySpace, Facebook oder wen auch immer zu kaprizieren, sondern sich generell zu überlegen, welche Rolle man als Marke/Händler im Internet spielen will.
Und langfristig gebe ich eigenständig überlebensfähigen, selbständig agierenden Marken/Diensten die größeren Chancen.
Kommentiert von: Exciting Commerce | 28. Mai 07 um 12:07 Uhr
Ich will zwar kein Facebook Jubelperser sein, aber wie definierst du _frei zugängliche Internet-Anwendung_ ? Man registriert sich, und dann kann man es nutzen. Bei Netvibes registriert man sich auch, dann kann man es nutzen.
Zur Integration von Anwendungen: es ist nicht notwendig eine *gesonderte* Anwendung für Facebook zu entwickeln, man muss prinzipiell nur einen Wrapper für Facebook schreiben (der Aufwand dafür ist vernachlässigbar, einigen ist das in einer Nachtsession gelungen) und ist dann von etwa einem Mittelsmann-Widget unabhängig. Bestehende Anwendungen verlieren auch keine User an Facebook, innerhalb von Facebook meldet man sich ja für eine Anwendung (etwa Twitter) mit seinem bestehenden Usernamen/PW an oder man legt einen neuen Account an, alles was man dann innerhalb vom Garten Facebook mit einer Anwendung treibt, ist auch ausserhalb vom Garten Facebook auf der jeweiligen Anwendung (nochmal etwa Twitter) zugänglich. Im Grunde erscheint mir das für die Anwendungsentwickler (und eigentlich auch User) freier, als die Freiheiten die Ning bietet, die erkauft man sich nämlich mit einer vollständigen Abhängigkeit von Ning als Plattform.
Kommentiert von: live.hackr | 28. Mai 07 um 13:12 Uhr
Bist Du schon mal auf Facebook gegangen, ohne Dich anzumelden? Da ist nichts. Netvibes (aber auch MySpace & Co.) lassen sich auch ohne Registrierung nutzen. (Ich bin zum Beispiel begeisterter, aber rein passiver, MySpace-Nutzer.)
Bzgl. der Technik hast Du natürlich recht. Ich versuche die technischen Details immer aus und vor zu halten. Der Punkt ist: Kann man seinen Dienst überall integrieren oder nur bei Facebook, sprich: gibt es einen Standard oder braucht man künftig für jedes neue Facebook einen eigenen "Wrapper".
Wie gesagt: Ich finde Facebook eine wunderbare Sache, nur kommen mir in der ganzen Jubelarie ein paar sehr entscheidende Punkte zu kurz.
Kommentiert von: Exciting Commerce | 28. Mai 07 um 13:30 Uhr
"E-Commerce-Unternehmen (wie Threadless, Woot & Co.), die selber Nutzermagneten sind, haben es nicht nötig, nun gesonderte Anwendungen für Facebook & Co. zu entwickeln."
Warum? Warum auf zusätzliche Einnahmequellen verzichten? wie hackr schon geschrieben hat, es ist eine _zusätzliche_ Möglichkeit sein Produkt zu verbreiten. Und zwar eine die zum wahren Beschleuniger für kleine Unternehmen werden kann. Die große Userbasis, in Verbindung mit dem Aktivitätenfeed, das alles ist nicht zu unterschätzen. Die hohe Stickiness (nach eigenen Angaben) von Facebook kommt sicher nicht von irgendwo.
Und da das Ganze für die Drittanbieter eher als etwas Zusätzliches gesehen werden sollte, sehe ich die Gefahren eines geschlossenen Systems nicht so sehr. (Einige werden sich auch zu 100% darauf konzentrieren, aber das ist eine Entscheidung die hier nicht nötig ist.)
Was einen Standard zur Integration in Social Networks angeht: Ich denke, dass wird der nächste Schritt werden, den ein paar der anderen SNs anstreben werden, wenn sie hinter Facebook immer weiter zurückfallen.
Nochmal: Du propagierst hier seit Wochen oder Monaten (zu Recht) die Wichtigkeit von Widgets und deren zunehmende Bedeutung im ecommerce. Meiner Meinung nach, ist Facebook hier jetzt den logischen nächsten Schritt gegangen. Da kann man nur applaudieren, wenn man im Vergleich myspace oder amazon (alexaholic..) anschaut.
Der Weisheit letzter Schluss ist es natürlich aber auch nicht.
Hmm, SN-übergreifende Standards zum Implementieren, das wäre in der Tat was.
Kommentiert von: marcel weiss | 28. Mai 07 um 14:19 Uhr
... deswegen schreibe ich ja, dass ich es toll finde, was Facebook macht. Aber es sind eben nicht die 40 Mio. Nutzer, die immer wieder als Hauptargument angeführt werden, sondern der Plattformgedanke, der das Ganze so spannend macht. Hier kann man viel von Facebook lernen. Aber Facebook nun als das allein Seligmachende zu propagieren, finde ich gelinde gesagt etwas übertrieben.
PS. Danke im übrigen für deine geniale Zusammenfassung. Die war sehr hilfreich, um sich einen Überblick zu verschaffen.
Kommentiert von: Exciting Commerce | 28. Mai 07 um 16:57 Uhr
Von einem schon lange fälligem (und angemahntem) Schritt und nach meiner Meinung einem guten Beispiel in die richtige Richtung darf man schon sprechen. Ihr "So what" löst sich erst in den Kommentaren auf.
Wer gestern morgen bei Technorati nachschaute fand unter 'facebook+platform' gerade erst einmal 28 Ergebnisse auf deutschen Blogs, im englischsprachigen Bereich waren es bereits so um die 3.800 ...
Kommentiert von: Hugo E. Martin | 28. Mai 07 um 22:50 Uhr
@ecommerce: Stimmt, der Plattformgedanke ist das Spannende hier. Freut mich, dass der Artikel hilfreich war. :)
@Hugo E. Martin: eine deutsche mit der in den USA vergleichbare Techblogosphäre ist quasi nicht existent, deshalb schreibt hier auch kaum jemand drüber.
Kommentiert von: marcel weiss | 29. Mai 07 um 09:44 Uhr
Ich kann keine "Abgeschlossenheit" erkennen, durch diesen Schritt ist Facebook nur offener geworden. Und wer weiß, vielleicht entwickelt sich die API ja zu einem Standard.
Auf jeden Fall ist das mal eine echte w2.0-Innovation, sowohl technisch als auch unternehmerisch. Wenn man das Alter des Teams bedenkt, kann man da nur den Hut ziehen.
Mich wundert nämlich, dass sich so wenig Datenschutzbedenkenträger zu Wort melden. Wenn man sich die Dokumentation der API mal genauer ansieht (insb. Facebook Query Language), erkennt man, dass jetzt alle Benutzerdaten und Verbindungen total leicht abfragbar sind. Das Crawlen (bei studiVZ noch lautstark als Privacy-Bug beschimpft) wird hier zum Feature. Mich würde das als Benutzer schon befremden und Zuckerberg riskiert hier eventuell seine Benutzerbasis, die den wesentlichen Wert der Unternehmung ausmachen. Insofern eine mutige Entscheidung, aber vielleicht ja genau die richtige. Selbstdarstellung ist ja schwer in Mode und Privatsphäre was für Bedenkenträger, meint man.
XING wird sicher nicht mit dieser Radikalität nachziehen, damit würden sie sich jedes Vertrauen verspielen; außerdem verdienen sie lieber durch exklusivere Partnerschaften selber mit;)
Kommentiert von: jupp | 29. Mai 07 um 21:57 Uhr
Xing könnte gar nicht nachziehen, die haben ja schon Probleme, ihre angekündigte API wirklich nutzen zu können. Die Datenschutzbestimmungen sind in den USA eben ganz anders und bei weitem nicht so streng wie bei uns.
Kommentiert von: paulinepauline | 29. Mai 07 um 22:34 Uhr
Generell finde ich ein API als Programmierschnittstelle gut. Eigene Anwendungen auf einer fremden Plattform zu entwickeln, birgt natürlich auch immer große, gefährliche Abhängigkeiten, die man besonders langfristig bei hohem eigenem Investment nicht unterschätzen sollte.
Den großen Knall sehe ich in Facebooks API nicht, schließlich gibt es auch andere selbst programmierbare Plattformen mit vielen Anwendern.
Kommentiert von: webmarketing | 01. Juni 07 um 10:02 Uhr
Der große Knall liegt darin, dass Facebook neben der API ein plattforminternes Benachrichtigungssystem hat, sodass Freunde jederzeit mitbekommen, sobald jemand etwas Neues auf seiner Seite hat. Die viralen Effekte sind enorm.
Kommentiert von: Exciting Commerce | 01. Juni 07 um 11:57 Uhr